Rougui, 25, erzählt:
«In Guninea arbeitete ich während der Schulferien oft für eine NGO und half mit, die Bevölkerung für Gesundheitsthemen zu sensibilisieren. Ich arbeitete bei drei Kampagnen mit: eine gegen AIDS, eine gegen Ebola und eine gegen die Beschneidung von Mädchen.
Im Kampf gegen die Ebola-Epidemie gingen wir von Familie zu Familie, verteilten Seife und Handdesinfektionsmittel und erklärten, wie wichtig Händewaschen ist, um gesund zu bleiben. Die Leute nahmen unsere Hilfe dankbar an; viele hatten keine Ahnung, wie das Ebola-Fieber übertragen wird.
Für die Anti-AIDS-Kampagne besuchten wir grosse Nähateliers und sagten den Angestellten, wie wichtig es ist, vor Arbeitsbeginn die Nadeln in der Nähmaschine auszuwechseln, wenn zuvor jemand anders damit gearbeitet hatte, oder sie zumindest zu desinfizieren. Viele wussten nicht, dass das HIV-Virus über Blut übertragen werden kann. Wir verteilten auch Kondome. Das führte manchmal zu lustigen Situationen. Einige Frauen lachten und sagten: «Meinem Mann gefällt der Sex ohne Kondom besser.»
Am Schwierigsten war die Kampagne gegen die Beschneidung von Mädchen: Hier trafen wir auf Ablehnung, denn diese Tradition ist noch sehr stark in der guineischen Kultur verankert. Viele verstanden zudem nicht, warum ich mich dagegen engagierte, obwohl ich als kleines Mädchen doch selbst beschnitten worden war. Ich habe aber eine klare Meinung dazu: Diese Tradition ist nicht gut für uns Frauen. Wenn der Eingriff schlecht gemacht wird, können Mädchen steril werden oder Krankheiten bekommen.
In Guinea besuchte ich das Gymnasium. Ursprünglich wollte ich danach an der Uni Biologie oder Chemie studieren, um später im Spital arbeiten zu können, mein eigenes Geld zu verdienen und meine eigene Wohnung zu haben. Ich verliess die Schule dann aber im Jahr vor der Matura, weil ich meinem Mann in die Schweiz folgte, der hier schon länger lebte und als Koch arbeitete. Bald darauf kam unsere Tochter zur Welt.
Hier in der Schweiz habe ich schnell gemerkt: Hey, Rougui, wenn du nicht arbeitest, gibt’s kein Taschengeld! Also habe ich an der Autonomen Schule, wo ich Deutsch lernte, zwei Brasilianerinnen mit Zöpfchenfrisur angesprochen und ihnen vorgeschlagen, ihr Haar neu zu flechten. Sie waren einverstanden. Später habe ich mich umgehört, ob jemand eine Putzhilfe braucht; diese Arbeit mache ich noch heute, etwa drei Stunden die Woche.
Im Zug lernte ich eines Tages eine junge Frau kennen, mit der ich inzwischen befreundet bin. Sie stellte mich ihrer Mutter, Elisabeth, vor; ich nenne sie liebevoll Mama Elisabeth. Elisabeth bot mir an, regelmässig mit ihr zusammen Deutsch zu lernen. Und dann erzählte sie mir vom Pflegehelfer*innen-Kurs beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK). Sie sagte: «Rougui, du bist jung und kannst eine Ausbildung machen!»
Dafür musste ich aber zuerst besser Deutsch sprechen, denn das war eine der Voraussetzungen für die Zulassung zum Kurs. Und ich brauchte etwa 2500 Franken, um den Kurs zu finanzieren. Also sparte ich das Geld, das ich mit Putzen verdiente, und lernte mit Elisabeth und an der ASZ weiter Deutsch. Beim zweiten Anlauf bestand ich den Deutschtest und konnte die Ausbildung Anfang 2020 beginnen.
Der Pflegehilfekurs dauerte ein halbes Jahr. Der zweite Teil der Ausbildung fand wegen Corona im Fernunterricht statt. Dieser Teil war sehr anstrengend: Ich bin es nicht gewohnt, per Video zu lernen, und zu Hause musste ich gleichzeitig auch auf meine Tochter aufpassen. Der Abschluss der Ausbildung bestand aus einem zweiwöchigen Praktikum, das ich in einem Spital machen konnte. Danach erhielt ich vom Roten Kreuz mein Zertifikat.
Mit diesem Zertifikat kann ich in einem Spital, in einer Arztpraxis oder in einem Altersheim als Pflegehelferin arbeiten. Als Pflegehelferin misst man bei den Patienten Blutdruck, Gewicht und Temperatur, hilft ihnen bei der Körperpflege oder begleitet alte Menschen. Ich liebe diese Arbeit. Ich fühle mich nützlich dabei, das gefällt mir.
Während des Praktikums musste ich bei einer Patientin den Blutdruck messen. Zuerst lächelte sie freundlich, aber als ich ihr sagte, dass ich aus Afrika bin, verdüsterte sich ihre Miene. Also begann ich ein Gespräch mit ihr; ich fragte nach Kindern, erzählte von meiner Tochter. Da entkrampfte sie sich. Ein andermal kämmte ich einem dementen älteren Mann das Haar. Irgendwann sagte er zu mir: «Du hast Talent für diese Arbeit. Ich spüre, dass du sie mit ganzem Herzen machst». Sein Kompliment machte mich glücklich. Und in diesem Moment erschien er mir überhaupt nicht dement.
Im Moment suche ich eine Stelle; bisher bekam ich aber nur Absagen. Das ist manchmal deprimierend, und wenn ich eine Absage erhalte, frage ich mich, warum man mir nicht vertraut. Die Leute denken wahrscheinlich: Sie hat zu wenig Erfahrung. Manchmal frage ich mich, ob es vielleicht auch an meiner dunklen Hautfarbe liegt, was schade wäre. In einem Spital hatten sie Bedenken, meine Schweizerdeutsch-Kenntnisse würden nicht ausreichen. Ich sage: Je mehr ich zum Sprechen komme, umso besser werden auch meine Sprachkenntnisse. Ich wünsche mir, dass man mir eine Chance gibt.
Mein Ziel ist es, zunächst als Pflegehelferin Geld zu verdienen und später die Ausbildung zur Pflegefachfrau zu machen. Und danach möchte ich mich zur Hebamme ausbilden lassen.
Sobald ich eines Tages genügend Geld auf der Seite habe, kaufe ich in Guinea eine Wohnung, in der meine Mutter und Schwester sorgenfrei leben können. Und zusammen mit meiner Tochter möchte ich neue Länder bereisen: China zum Beispiel, oder Japan.»