Tanz kann ein Mittel sein, Menschen mit einer körperlichen oder kognitiven Schwäche zu integrieren. Warum, erklärt Isabella Spirig, die Gründerin des Projekts IntegrArt.
Isabella Spirig, wie kommt es, dass Sie sich für die Inklusion über den Tanz engagieren?
Als junge Tänzerin nahm ich an einem inklusiven Tanzworkshop des britischen Choreografen Adam Benjamin teil und war beeindruckt vom kreativen Umgang mit aussergewöhnlichen Situationen. Ein weiterer Grund ist, dass ich inzwischen Mama eines Sohnes bin, der mit einer Behinderung lebt. Jeden Tag sind kreative Lösungen angesagt, die viele Bereicherungen schaffen. Inklusion schafft neue Möglichkeiten, für alle.
Was kann der Tanz, was andere Kunstformen nicht können?
Beim Tanz ist man gezwungen hinzuschauen und sich mit dem Körper der Tänzerin oder des Tänzers auseinandersetzen. Man kann sich ihm nicht entziehen. Der zeitgenössische Tanz hat aus meiner Sicht die Aufgabe, gesellschaftspolitische Fragen zu stellen. «L’art pour l’art» finde ich weniger interessant. Der Tanz ist ein Mittel zum Zweck: Das Ziel ist die Inklusion. Alle sollen gleichberechtigt sein, niemand soll mehr ausgegrenzt werden. Auf der Bühne wird diese Utopie vorgelebt. Es wäre schön, wenn die ganze Gesellschaft so funktionieren könnte.
IntegrArt ist ein Netzwerkprojekt, das inklusive Bühnenkunst fördert. Welche Ziele verfolgt es dabei?
IntegrArt strebt die Gleichstellung von Künstlern und Künstlerinnen mit und ohne Behinderung an, in Darbietungen wie in den Leitungspositionen.
Was haben Sie auf dem Weg dahin bereits erreicht?
Wir haben erreicht, dass der Begriff der «Professionalität» anders definiert wird. Die Gesuche von inklusiven Theater- und Tanzproduktionen wurden früher alle abgelehnt, weil es hiess: «Die sind nicht professionell.» Heute verlangen wichtige Schweizer Kulturinstitutionen nicht mehr zwingend ein Diplom von einer Tanzakademie, sondern anerkennen auch Praxiserfahrung. Ein anderer wichtiger Fortschritt ist, dass unsere Tänzer*innen jungen Menschen mit Behinderungen als Vorbild dienen. Die Jungen werden ermutigt, ihre eigenen Träume zu leben.
Worum wird es an Ihrer Tagung im September gehen?
Die Tagung richtet sich an Politiker*innen sowie Kulturschaffende mit Entscheidungsgewalt. Also an Regisseur*innen, Intendant*innen von Theaterhäusern oder Leiter*innen von Festivals, an denen Tanz und Theater programmiert wird. Wenn Menschen mit Behinderung an die Tanzschulen zugelassen werden und in leitende Positionen kommen sollen, müssen bestehende Strukturen aufgebrochen und neu gedacht werden.
Wie erleben Sie das Echo auf Ihre Forderungen?
Das erste Echo ist immer sehr gut. Niemand sagt, Inklusion sei eine Schnapsidee. Danach muss man aber darauf achten, dass wirklich etwas verändert wird. Will man etwa eine Fachexpertin im Rollstuhl in eine Kommission integrieren, muss das Sitzungszimmer rollstuhlgängig sein. Es fallen vielleicht Kosten an, und dann entsteht rasch Widerstand. Personen, die bei der Umsetzung konsequent bleiben, empfinden die Inklusion aber immer als Bereicherung.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir mehr Mut zum Konsequentsein. Denn die Möglichkeiten der Inklusion sind noch lange nicht ausgeschöpft. Ich freue mich auf den Tag, an dem ein Tanzhaus oder ein Theater von einer Fachperson mit Behinderung geleitet wird.
Isabella Spirig hat das Netzwerkprojekt IntegrArt des Migros Kulturprozent ins Leben gerufen. Sie war als Tanzpädagogin, Tänzerin und Produktionsleiterin tätig, gründete die Frauentangogruppe Las Tangueras und tourte in der Schweiz, Deutschland und Frankreich. 1998 übernahm sie die Leitung des Fachbereiches Tanz und die künstlerische Leitung des Migros-Kulturprozent Tanzfestival Steps.
Netzwerkprojekt IntegrArt: Seit 2007 engagiert sich das Migros-Kulturprozent mit IntegrArt für die selbstbestimmte Einbindung von Menschen mit Behinderungen in den Kunst- und Kulturbetrieb. Das Projekt vernetzt alle zwei Jahre inklusive Festivals und Theaterhäuser aus der Schweiz für gemeinsame Tanz- und Theaterproduktionen. Am Di, 21. und Mi, 22. September 2021 fandan der Gessnerallee Zürich für den Austausch mit Kultur und Politik die Tagung «Strukturen neu denken» statt.
Dieses Interview erschien am 27. August 2021 im Strassenmagazin Suprise.