Ich habe zwei Orte, die ich Heimat nenne: Texas, wo ich aufgewachsen bin, und Oerlikon, wo ich jetzt lebe. In Oerlikon fühle ich mich wohl, weil ich dort mich selbst sein kann, und weil die Leute zurücklächeln, wenn ich sie anlächle. Und ich mag den Gemüsemarkt am Samstagmorgen. Ich kam aus freien Stücken nach Zürich, wegen einer Arbeitsstelle, ich wollte Europa entdecken und mich selber besser kennenlernen.
Wenn ich an Texas denke, taucht vor meinem inneren Auge spontan ein riesiges Strassenüberführungsbauwerk auf, an dem sich sechs verschiedene Autobahnen kreuzen. Es ist alles andere als ein schöner Anblick, aber wenn ich mit dem Auto dort vorbeikomme, weiss ich, dass es zu meinem Elternhaus nicht mehr weit ist. Das fühlt sich wie Heimat an. Ich vermisse es manchmal, stundenlang mit dem Auto durch die Stadt zu fahren, wie ich das in Texas hin und wieder gemacht habe.
Mit Texas verbindet mich eine Art Stolz. Wir sind der beste Staat der USA! Ich sage das mit einem Augenzwinkern. Es ist ein schillernder Mix aus vielen verschiedenen Kulturen und Menschen – vom einfachen Wanderarbeiter zur Ölmilliardärin bis zum Cowboy ist alles mit dabei. Diese Diversität ist nicht nur eine Stärke von Texas, sondern der gesamten USA. Doch als Trump an die Macht kam, geriet das ruhige Zusammenleben stark unter Druck. Dies war mit ein Grund, warum ich nach Zürich kam: Ich fühlte mich in den USA nicht mehr wohl. Ich konnte nicht verstehen und nicht ertragen, wie das Land soweit zurückfallen und einen so rassistischen und selbstbezogenen Präsidenten wählen konnten. Ich musste weg.
Ich bin fest davon überzeugt, dass es reine Willkür ist, wo, wann und wie wir geboren werden. Daraus lässt sich kein falscher Stolz ableiten.
Michelle, 31
Ich habe eine sehr ungezwungene und freiheitliche Auffassung des Begriffs Heimat – womit ich nicht den grosskotzigen amerikanischen Freiheitsbegriff meine. Mit freiheitlich („liberated“) meine ich, dass ich dafür offen bin, mehr als einen Ort auf der Welt meine Heimat zu nennen. Das kann ich auch deshalb, weil ich volle Reisefreiheit geniesse. Heimat entsteht für mich dort, wo ich mich mit den Menschen verbunden fühle. Umgekehrt fühle ich mich in Momenten, in denen ich diese Verbindung nicht mehr spüre, alleine und heimatlos. Das kann überall auf der Welt der Fall sein.
Ich bin fest davon überzeugt, dass es reine Willkür ist, wo, wann und wie wir geboren werden. Daraus lässt sich kein falscher Stolz ableiten.
Michelle wuchs in Grand Prairie und Arlington, Texas, auf, im Grossraum Dallas/Fort Worth. Danach zog sie für das Studium nach Atlanta, Georgia. Mit 24 Jahren siedelte sie nach Gainesville in Florida um, wo sie fünf Jahre blieb und ihren PhD machte. Kurz vor ihrem 30. Geburtstag kam sie nach Zürich.
Dieses Porträt erschien erstmals im Magazin «Zwischentext».